Brüssel, 10.10.12 - Im aktuellen Fortschrittsbericht stellt die Europäische Kommission der Türkei das bisher schlechteste Zeugnis aus. Kritisiert werden insbesondere die massive Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit sowie der Missbrauch des Anti-Terror-Gesetzes durch die türkische Justiz. Auch der Boykott der zypriotischen Ratspräsidentschaft durch Ankara wird scharf kritisiert. Hierzu äußert sich die Türkei-Expertin der deutschen Christdemokraten im Europäischen Parlament, Dr. Renate Sommer, wie folgt:
"Der Bericht liest sich eher wie ein Horrorroman über den Marsch einer ehemals aufblühenden Demokratie in das Mittelalter. In der Türkei gibt es seit Langem klare Tendenzen hin zu einer Islamisierung. Die Intoleranz gegenüber religiösen Minderheiten wächst stetig; ihre Diskriminierung bis hin zur Enteignung ist an der Tagesordnung. Unliebsame Oppositionelle, und regierungkritische Journalisten werden unter dem Vorwand des Terrorismusverdachts weggesperrt. Da ist es nicht überraschend, dass sich die Medien zunehmend in Selbstzensur üben, um zu überleben" so Sommer.
Auch der türkischen Justiz und Polizei bescheinigt der EU-Bericht gravierende Schwächen. Angeklagte sitzen jahrelang in Untersuchungshaft. Gewalttätige Polizisten werden von der Justiz in Schutz genommen. Der Tod von 34 Zivilisten bei einem Flugangriff auf vermeintliche PKK-Terroristen scheint weder die Regierungspartei noch die Justiz zu interessieren: Eine wirkliche Untersuchung findet jedenfalls nicht statt.
"Nicht nur im eigenen Land tritt die türkische Regierung selbstherrlich und absolutistisch auf, sondern auch gegenüber der EU und weiteren westlichen Ländern. Hier verspielt Sultan Erdogan jegliches Restvertrauen", erklärt Sommer. "Die Türkei versucht seit geraumer Zeit, die EU zu Visa-Erleichterungen bis hin zur Visafreiheit für türkische Bürger/innen zu erpressen. Das Mittel zum Zweck sind zig-tausende illegale Grenzübertritte nach Griechenland, die die Türkei nicht verhindert, sondern eher noch zu fördern scheint. Nicht umsonst wird ein angekündigtes Gesetzespaket zur Grenzsicherung in Zusammenarbeit mit FRONTEX erst gar nicht dem Parlament vorgelegt. Und nicht umsonst wird die Ratifizierung des acht Jahre lang ausgehandelten Rücknahme-Übereinkommens mit der EU verweigert. Angesichts der Lage in Syrien dürfte sich das Problem für die EU weiter verschärfen."
Spätestens diese Situation verprellt mittlerweile auch die letzten Befürworter eines Türkei-Beitritts. Mit seiner Kriegsrhetorik gegenüber Israel und Syrien macht Erdogan außerdem Stimmenfang in islamistischen Kreisen und setzt den Frieden in der gesamten Region aufs Spiel.
Sommer: "Höhepunkt der türkischen Konfrontationspolitik gegenüber der EU ist derzeit die strikte Weigerung, mit der zypriotischen Ratspräsidentschaft zu verhandeln. Dies zeigt überdeutlich, dass die türkische Regierung nicht nur unsere grundlegenden Werte und Regeln, sondern die EU als Ganzes nicht akzeptiert. Mit Erdogan hat die Türkei ohnehin kein Interesse mehr an einem EU-Beitritt. In seiner jüngsten Parteitagsrede kam die EU nicht vor, und im Programm seiner AK-Partei wird sie erst an vorletzter Stelle erwähnt. Etwa die Hälfte der Bevölkerung ist gegen den EU-Beitritt. Vor diesen Hintergründen stellt sich die Frage, warum Erweiterungskommissar Füle die Verantwortung für den Stillstand der Verhandlungen einzelnen EU-Ländern, nicht aber dem Kandidaten selbst anlastet. Es ist hohe Zeit, den Tatsachen endlich ins Auge zu sehen. Noch ist es nicht zu spät, die Beitrittsverhandlungen auf Partnerschaftsverhandlungen zu reduzieren," erklärt Sommer abschließend.