Brüssel, 12.10.11 - Die Europäische Kommission übt in ihrem heute vorgestellten "Bericht über die Fortschritte in der Türkei" scharfe Kritik am Stillstand der Reformbemühungen des Landes. Lediglich in drei Bereichen wird Positives attestiert. Ernüchternd: Grundrechte, wie das Recht auf Meinungs- und Pressefreiheit, sowie der Schutz von Frauen und religiösen Minderheiten vor Diskriminierung werden weiterhin missachtet. Hierzu nimmt die Türkei-Expertin der Christdemokraten im Europäischen Parlament, Dr. Renate Sommer, wie folgt Stellung:
"Angesichts der schier endlosen Kritik am nahezu verschwundenen Reformwillen der türkischen Regierung kann man spätestens den diesjährigen Bericht nur noch als Rückschrittsbericht bezeichnen. Wegen der Verweigerungshaltung der Türkei gegenüber den EU-Forderungen sind zahlreiche Verhandlungskapitel längst eingefroren, und neue Kapitel werden vorerst nicht mehr eröffnet. Aktuell erkennt die EU-Kommission nur noch in drei Bereichen positive Entwicklungen, und selbst diese sind fraglich.
War der letztjährige Fortschrittsbericht schon ernüchternd, so beschreibt das neue Dossier die bittere Wahrheit über die Rückentwicklung in der Türkei. Ausgerechnet bei den für uns Europäer so selbstverständlichen Menschenrechten und bürgerlichen Freiheiten geht es immer weiter bergab.
Regierungskritische Journalisten werden durch die Beschlagnahme von Hintergrundmaterial, Verhaftungen und schließlich Gefängnisstrafen mundtot gemacht. Die schier unglaubliche Zahl von 2.000 Verfahren gegen Journalisten mit an den Haaren herbeigezogenen Anklagen ist der offene Angriff auf die Pressefreiheit des Landes. Wer sich nicht einschüchtern lässt, verschwindet im Gefängnis. 68 Journalisten sitzen derzeit in Haft.
Gleiches trifft selbst friedliche Demonstranten. Auch sie werden verhaftet, und Insidern zufolge macht die türkische Regierung Druck auf die Gerichtsbarkeit, das Antiterror-Ausnahmegesetz anzuwenden. Die Situation der Inhaftierten wird durch die Länge von Untersuchungshaft und Gerichtsprozessen noch verschlechtert. Unverständlich ist daher das Lob der Europäischen Kommission wegen der angeblich zunehmenden Unabhängigkeit der Justiz nach der Verfassungsreform im letzten Jahr. Die Realität ist anders.
Das gilt z.B. auch für die Rechte der Frauen in der Türkei. Obwohl das Gesetz die Diskriminierung verbietet, hat die Gewalt gegen Frauen sowie die Kluft zwischen Männern und Frauen in der Sekundarausbildung deutlich zugenommen. Die Medien tun ihr Übriges, um wieder die althergebrachten Geschlechterrollen zu zementieren.
Selbst das hoch gelobte Wirtschaftswachstum der Türkei ist mehr Schein als Sein. Angesichts des horrenden Handelsbilanzdefizits und des Lebens "auf Pump" vieler Millionen türkischer Bürger zweifeln Wirtschaftsexperten an der Nachhaltigkeit des Wachstums. Das gilt umso mehr, als die derzeit schwächelnde EU der wichtigste Handelspartner der Türkei ist.
Der jahrelange Reformstillstand, gepaart mit der Kriegsrhetorik von Premierminister Erdogan gegenüber Zypern und Israel, lassen nur einen Schluss zu: Es wird keine EU-Mitgliedschaft für die Türkei geben. Wir müssen endlich beginnen, konkret über die Ausgestaltung einer privilegierten Partnerschaft zu verhandeln."
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